Nachbarschaft – mit Sicherheit
Wenn der Dealer sagt: „Du wohnst hier? Das ist schrecklich“
Diesen Mittwoch wird am Kottbusser Tor die neue Polizeiwache eröffnet. Sie soll mehr Sicherheit bringen. Doch es gibt Zweifel
von Patrick Goldstein
BERLIN Berliner Morgenpost | Serdar Kazanci ist stocksauer. Der 41-jährige Gastronom zählt zu den Hunderten Gewerbetreibenden vom Kottbusser Tor, die den Niedergang rund um den Kreuzberger Verkehrsknoten mit Sorge beobachten. Dennoch ist er wie die meisten seiner Kollegen gegen die neue Polizeiwache, die an diesem Mittwoch nur wenige Schritte von seinem Restaurant entfernt eröffnet wird. Dabei hoffen Anwohner, Bürgergruppen und Unternehmer seit Jahren auf mehr Sicherheit in ihrem Kiez.
Im ersten Stock des Wohnkomplexes Neues Kreuzberger Zentrum (NKZ) ist dieser Tage viel Bewegung. Wo nicht schützende Bretter montiert sind, sieht man hinter einer Eingangstür aus Sicherheitsglas Handwerker, die in letzten Arbeiten an der neuen 200-Quadratmeter-Wache stecken. Eine Polizistin schleppt Material hinein, das Neonschild mit dem „Polizei“-Schriftzug wird aus einem Lieferwagen entladen.
Anwohner warnen selbst vor Kriminalität
Wer den Gang weitergeht, befindet sich binnen Sekunden in einer Szenerie wie aus den Sozialbauten der New Yorker Bronx in den 80er-Jahren. Oder den französischen Banlieues, jenen Großstadtvororten, in die sich heute kein uniformierter Polizist mehr hineintraut. Heruntergekommene Betonfassaden, heruntergelassene Rollläden, stümperhafte Graffitis und Tags. Irgendwann hat hier jemand für weniger Ortskundige die Wände mit dem gedruckten Hinweis beklebt: „Achtet auf Taschendiebe.“
Ein Stockwerk tiefer sagt Gastwirt Kazanci, er habe seiner Mutter eingeschärft, hier nachts nicht auf die Straße zu gehen. „Selbst ich als Hobbyboxer bin – wenn möglich – nach Mitternacht nicht mehr unterwegs.“ Zwei Mal wurde in sein Restaurant Taka eingebrochen.
Polizeidaten zeigen ein düsteres Gesamtbild im Bereich Kottbusser Tor: Eine Abgeordnetenhausanfrage vom Januar vergangenen Jahres ergab für den Zeitraum Mai bis Dezember im Jahr davor monatlich 30 bis knapp 50 Gewalttaten, dazu zwischen 40 und etwa 100 Diebstähle und außerdem 40 bis 90 Drogendelikte. Allein für diese drei Kriminalitätsbereiche waren es insgesamt 1322 erfasste Straftaten. Der „Kotti“ ist bei der Polizei als einer von sieben „kriminalitätsbelasteten Orten“ eingestuft.
Einer von sieben „kriminalitätsbelasteten Orten“
Dennoch ist die Meinung im Kiez zur neuen Polizeipräsenz gespalten. Die Akteure vom Platz seien nicht grundsätzlich gegen eine Wache gewesen, sagt etwa Alexander Kaltenborn (54) von der Mietergemeinschaft Kotti & Co., zudem Vorsitzender des Trägervereins Kotti-Coop, der seit Jahren im Viertel Basisarbeit macht und versucht, den Zusammenhalt am Platz zu stärken.
Aber Innensenatorin Iris Spranger (SPD) habe diese Polizeistation „arrogant und über unsere Köpfe hinweg durchgedrückt“. Viele lehnten zudem die Lage der Wache ab. „Von oben auf uns hinabgucken – das sieht nach Obrigkeitsstaat aus“, meint Gastronom Kazanci und sagt damit, was man im Viertel häufig hört. „Und dass die Baukosten von anfangs 250.000 Euro auf jetzt 3,2 Millionen Euro hochschießen? So würde ein Betriebswirt wie ich nie kalkulieren.“
Anfangs seien Gewerbetreibende wie er froh gewesen, dass da etwas kommt, das möglicherweise die Kriminalität eindämmt. Inzwischen sei unter der Mehrheit der Gewerbetreibenden die Meinung umgeschlagen. „Was hier gebraucht wird, ist eine Polizei, die auf den Straßen, in den Gängen des NKZ, im gesamten Viertel Präsenz zeigt. Und nicht da oben sitzt und Formulare ausfüllt.“
Vereinschef Kaltenborn sagt, die Interessenvertreter vom Kottbusser Tor hätten stets darauf gedrängt, dass Polizeiarbeit Teil einer Gesamtstrategie sein müsse, die die Lage nicht als Kriminalitätsproblem, sondern als sozialen Missstand verstehe. Und: „Wir hätten für die Wache einen neuen Modulbau wie am Alexanderplatz bevorzugt. Oder eine Fläche im NKZ – auf Straßenebene“, führt Kaltenborn weiter aus.
Wer den Gang vor der Wache im ersten Stock nach Westen entlangläuft, hat freie Sicht auf die Situation vor dem Eingang zum Drogenkonsumraum der Fixpunkt gGmbH. 50 Suchtkranke stehen dort an diesem Vormittag, halten sich teils mit Mühe auf den Beinen, während geschäftige Dealer zwischen ihnen umhereilen, einander Zeichen geben, im U-Bahn-Eingang verschwinden, wieder auftauchen. Ein Käufer und ein Händler stoppen direkt unter der Brüstung im ersten Stock, hinter ihnen ein geschlossener Friseur und ein Werbeplakat mit malerischem Südseestrand. Geld und Ware wechseln die Besitzer, man trennt sich zügig und eilt in entgegengesetzte Richtungen.
Es gebe da viele Anwohner, so Matthias Coers vom NKZ-Mieterrat, die eine Wache im Haus begrüßten. Besonders Ältere mit migrantischem Background empfänden es als Wertschätzung, hier nun mit ihren Sorgen ernst genommen zu werden, sagt er.
Arbeit besonders anspruchsvoll für Polizisten und Sozialarbeiter
Ein Beispiel, wie verwoben die sozialen Probleme im Kiez sind: Seit März 2022 führen die engagierten Frauen und Männer vom Fixpunkt den Drogenkonsumraum. Allein im August wurden dort 1300-mal Drogen eingenommen. Geschäftsführer Raphael Schubert (32) kann aber wegen fehlender Mitarbeiter teils nur drei Viertel der angestrebten Öffnungszeiten anbieten. Die Folge, so Mieterrat Coers: „Die Suchtkranken gehen zum Konsum in die Treppenhäuser, was die Anwohner dann aushalten müssen.“
Andererseits, so der Vater einer kleinen Tochter: „Wir Mieter wohnen hier gern. Denjenigen, der dagegen nur gelegentlich am Platz ist, erschreckt das Ganze natürlich.“ Gewiss: Er werde mitunter fünfmal am Tag angesprochen, ob er etwas kaufen möchte. „Als ich einmal erwidere, dass ich nur gerade Brötchen für meine Familie hole, sagt der Dealer zu mir: ,Du wohnst hier? Das ist ja schrecklich.‘“ Aber die Menschen im Block, so der 53-Jährige, störe viel mehr der Müll, den Partymacher am Wochenende hinterlassen. Das Elend indes blendeten die einen aus, die anderen versuchten, ihm furchtlos zu begegnen.
Kurt Wansner (CDU), Mitglied im Abgeordnetenhaus mit Kreuzberger Wahlkreis, sagt: „Es ist in den vergangenen Jahren immer schlimmer geworden.“ Die Wache sei nun ein Signal an die Nachbarschaft: Die Polizei kümmert sich. Dem halten Kritiker entgegen, die Polizeistation werde keine Probleme lösen, sondern die Drogenszene höchstens verdrängen. Diese wiederum werde dann etwa Richtung Süden zur Schönleinstraße oder zum Hermannplatz ausweichen. „Sicherlich wird es das geben“, sagt Wansner. „Und dann müssen sie auch von dort verdrängt werden. Im Idealfall ist man ihnen immer einen Schritt voraus.“
Effektiv werde die im Alltagsgeschäft mit drei Beamten pro Schicht besetzte Wache erst, wenn sich die Polizisten auch auf die Straße begäben, so Wansner. Ihnen stehe im Kiez allerdings eine linksradikale Szene gegenüber, die jetzt gegen die Wache mobilisiere. Wansners Resümee: „Ich erwarte dadurch eine Trendwende am Kottbusser Tor. Wenn auch nicht sofort.“
Nur ein Beamter meldete sich freiwillig
Innerhalb der Polizei ist man weit weniger enthusiastisch. Benjamin Jendro, Sprecher der Gewerkschaft der Polizei (GdP), erinnert daran, dass sich für die 25 benötigten Stellen nur ein Beamter freiwillig gemeldet habe. Und das sei nicht verwunderlich. „Eine Wache als Teil eines Bestandsgebäudes ist immer ein Problem. Die Kollegen sitzen da wie auf dem Präsentierteller. Gegen mögliche Angriffe ist der Schutz natürlich nicht optimal.“
Laut Senatorin Spranger stiegen die Stunden der Einsatzkräfte zwischen 2019 und 2022 von rund 19.000 auf 33.700. Jendro: „Dass man vor Ort nun eine Wache hat, wird an der ohnehin seit Jahren sehr hohen Polizeipräsenz am Kottbusser Tor nicht wirklich etwas ändern.“ So gilt es jetzt, beim Aufeinandertreffen der unterschiedlichen Interessen am Kottbusser Tor genau zu beobachten, ob ein viel diskutiertes Millionenprojekt den Alltag der Menschen vor Ort verbessert.
erschienen in der Berliner Morgenpost am 15. Februar 2023
Online-Link: https://www.morgenpost.de/bezirke/friedrichshain-kreuzberg/article237639983/berlin-kottbusser-tor-kotti-wache-kosten-kiez-polizei.html